Sie ist die erste blinde Erzieherin Deutschlands, lebt die künstlerische Vielfalt und engagiert sich ehrenamtlich. Die Berlinerin Silja Korn lernte, an sich zu glauben. Ein Porträt.
Silja Korn geht zügig über den Hermannplatz in Berlin-Neukölln. Es ist der 26. September 2021, Bundestagswahl- und Berlin-Marathon-Sonntag. Ein Leopardenmuster ziert Pullover, Tuch und Brillengestell von Silja Korn. Eine Frau, die mit ihrem Äußeren ausstrahlt, „hier bin ich“. Auf der Kartenrückseite lädt sie mit dem „polyrama – museum für lebensgeschichten“ zu einem Audiowalk ein.
Zwanzig Menschen, die Silja Korn nicht oder nur flüchtig kennt, folgen ihr über den Hermannplatz, hören, was sie mit klarer Stimme über das Mikrofon spricht, als würde sie guten Bekannten am Tisch sitzend über ihr Leben erzählen. Die Hälfte von ihnen trägt Augenmasken und versucht zum ersten Mal in ihrem Leben, zögerlich und tastend mit Blindenlangstöcken ihren Weg zu finden. Die andere Hälfte führt die Augenmasken-Tragenden die Treppe und Rolltreppe zur U-Bahn-Station hinunter. Am nächsten Ausgang wieder heraufkommend, geht Silja Korn an zwei Häusern vorbei, bleibt stehen und zeigt auf eine Wohnung im ersten Stock eines Hauses am Hermannplatz. Dort verbrachte die heute 55-Jährige die ersten 24 Jahre ihres Lebens und erzählt im Gespräch mit der Performancekünstlerin Lotti Seebeck der Gruppe aus dieser Zeit.
Silja Korns Mutter arbeitet vor der Geburt ihrer Kinder als Stickerin, ohne diesen Beruf gelernt zu haben. Hauptsächlich an der Stickmaschine arbeitet sie. Später kümmert sie sich als Hausfrau um die Kinder. Mit 40 macht sie einen Abschluss als Hauswirtschaftsmeisterin. Der Vater ist zunächst als Zimmermann tätig, wird Meister seiner Zunft. In den 80er Jahren arbeitet er dann als Bauleiter, um kurz danach an eine Bauschule zu wechseln, wo er bis zum Renteneintritt unterrichtet. Die Eltern geben den Kindern klare Werte mit: Gestritten werden darf mit Worten, aber niemand darf sich schlagen. Gegessen wird gemeinsam, sofern Schule und Arbeit dies zulassen. Die Eltern unternehmen viel mit Silja und ihren Geschwistern: Sie verreisen mit ihnen, gehen spazieren, Schlitten fahren und Schlittschuh laufen und auf den Spielplatz. Mit ihren vier Geschwistern und den Nachbarskindern turnt Silja im Hof an der Teppich-Abklopfstange und spielt Fangen im nahe gelegenen Park Hasenheide. Im Tante-Emma-Laden um die Ecke kauft sie Süßigkeiten. Doch am liebsten spielt Silja drinnen. Von der Mutter bekommt sie Stoffreste, aus denen sie Kleidung für ihre Puppen fertigt. Sie malt, um abzuschalten und einzutauchen in die Farben einer anderen Welt. Ein neugieriges Kind war sie, voller Lust, das Leben zu entdecken. Sie lächelt, als sie davon erzählt.
Das große Karstadt-Kaufhaus gegenüber ihres Wohnhauses gab es in ihrer Kindheit schon. Dorthin ging sie damals auch, um Wasserflöhe für die Goldfische zu kaufen, die sie in einem Aquarium hielt. Auf ihrem Weg zum Fischfutterkauf achtet ein Autofahrer nicht auf sie, die bei Grün die Straße überquert und biegt rechts ab. Als Folge des Unfalls, zwölf war sie damals, erblindet Silja Korn. Es schmerzt sie nicht mehr, sagt sie, sei so lange schon her. Nur dass es an der Kreuzung, an welcher der Unfall damals geschah, noch immer keine Ampel mit akustischem Signal gibt, ärgert sie. Aufrecht geht sie heute durch die Straßen ihrer Kindheit.
Nach dem Unfall war sie sehr unsicher unterwegs in der Welt, die für sie so anders geworden war. Widerwillig wechselt sie in die Johann-August-Zeune-Blindenschule nach Steglitz. Neu sind die Klasse mit anderen Jugendlichen und anderen Lehrenden. Neu ist die Brailleschrift aus tastbaren Punkten für sie. Es fällt ihr schwer, sie mit den Fingern zu ertasten, sodass sie das Braillebuch von sich wirft. Die junge Silja zieht sich zurück, weint oft in ihrem Zimmer, verweigert das Essen. Hungert sie, kann sie sich spüren, hat Kontrolle, denn wie sie aussieht, kann sie nicht sehen. Sie glaubt, ihre Schwester, die sich selbst sehen kann, sei wunderschön, sie selbst aber hässlich, kann sich nicht sehen. Die Lehrenden achten nur darauf, dass Silja und die anderen blinden Jugendlichen lernen. Wie verzweifelt sie ist und wie sehr sie sich danach sehnt, wieder Mut zu haben, das Leben zu entdecken und wieder malen zu können, erkennen sie nicht. Eifersüchtig ist sie auf die Flirts ihrer Schwester, merkt nicht, dass auch sie von Jungs wahrgenommen wird und weiß nicht, wie sie selbst blind flirten kann. „Meine Jugend habe deshalb ich verpasst und will deshalb so viel im Leben heute ausprobieren und kreativ sein“, sagt sie.
Erst, als sie von der taubblinden Pädagogin Helen Keller las, war Siljas Neugier und Ehrgeiz geweckt, Braille zu lernen. Unbedingt wollte sie die Braille-Bücher lesen, welche es von ihr in der Schulbücherei gab. Helen Keller hatte zunächst selbst als Kind von ihrer Lehrerin Anne Sullivan gelernt, einen Gegenstand mit einer Hand zu berühren und gleichzeitig über das Fingeralphabet von ihrer Lehrerin in die andere Hand buchstabiert zu bekommen, wie der Gegenstand hieß, sodass Helen Keller zunächst Dinge benennen und mit anderen Menschen kommunizieren konnte. Später erlernte sie die Brailleschrift, bei der mit den Fingerspitzen erhabene Punkte ertastet werden. Helen Keller wurde selbst Pädagogin und gab ihr Wissen an blinde und taubblinde Kinder weiter.
Als Silja Korn als Jugendliche davon erfährt, fasst sie Mut für ihr eigenes Leben und wünscht sich: Sie will Kinder selbst so ermutigen können wie ihr Vorbild Helen Keller es tat. Sie wollte als Erzieherin da sein für Kinder, damit diese sich nicht so unbeachtet und unverstanden fühlten, wie sie es in der Schule erlebte. Eine Lehrerin gibt es, die Silja Korn in ihrem Wunsch unterstützt, ihr Schulpraktikum im Kindergarten zu absolvieren. So führt Silja Korn ihr dreiwöchiges Praktikum in dem Kindergarten durch, welchen die Kinder ihrer Lehrerin besuchen. Das war 1982, in einer Zeit, in der behinderte Menschen noch weniger als heute als Fachkräfte in Bildungseinrichtungen arbeiteten, obwohl es auch heute noch sehr selten ist. Die Erzieherinnen dort bestärken sie. Ihnen ist wichtig, dass Kinder von Anfang an erleben können, dass Menschen verschieden sind, manche Menschen eine Behinderung haben. Sie freuen sich auf den Austausch mit Silja Korn, welche eine andere Perspektive in die Erziehung der Kinder hineinbringt. Die Erzieherinnen zeigen den Kindern, dass sie nichts auf den Wegen liegenlassen dürfen, damit Silja Korn nicht stolpert oder aus Versehen etwas kaputt geht. Die Kinder lernen schnell, dass sie mit Silja Korn reden müssen und nicht auf etwas zeigen können. So ist sie es, mit der ein Junge mit Trisomie 21 das erste Mal überhaupt im Kindergarten spricht.
Das Praktikum ist vorbei. Ihre Eltern zweifeln, trauen ihrer Tochter nicht zu, was diese sich für ihr Leben vorstellt, haben Angst um sie. Zwar überträgt ihre Mutter ihr Aufgaben wie Bügeln oder Einkaufen, aber wie ihre Tochter als blinde Frau allein wohnen oder als Erzieherin arbeiten könnte, vermag sie sich nicht vorzustellen. So reagiert sie ablehnend auf den Wunsch ihrer Tochter, Erzieherin werden zu wollen. Der Vater kann sich schon eher vorstellen, dass Silja Korn es schafft, denn er erfuhr von anderen blinden Menschen, wie sie leben. Doch auch er hat Zweifel, und auch er muss erst lernen, seine Tochter nicht rücklings von der Bahnsteigkante wegzuziehen, wenn sie dort mit dem Blindenlangstock die Kante zur Orientierung sucht. Wie soll Silja Korn ihre Aufsichtspflicht den Kindern gegenüber wahrnehmen, wenn sie blind ist, fragen sich ihre Eltern. Sie werde keinen Arbeitsplatz finden, befürchten sie und dass es unnütze Mühe sei, ihre Tochter zum Schluss doch als Masseurin, Korbflechterin oder Telefonistin arbeiten müsse, wie das Arbeitsamt es sich vorstellt.
Die Lehrerin, welche Silja Korn in ihrem Berufswunsch unterstützte, hat die Schule verlassen. Die anderen Lehrenden säen Zweifel, drängen sie zur Telekommunikationsausbildung, wie sie blinden Menschen oft empfohlen wird. Silja Korn ergibt sich, zunächst. Doch sie wünscht sich weiter, Erzieherin werden zu wollen. In einem Café erzählt sie einer Jugendlichen, die bei ihr und ihrer Freundin am Tisch sitzt, von ihrem Wunsch, erfährt, dass deren Bekannte gerade eine Ausbildung zur Erzieherin an der Oberlin-Fachschule für Erzieher*innen absolviert und bittet die Jugendliche um die Adresse dieser Schule.
Mit ihrer Freundin setzt sie eine Bewerbung auf, ruft in der Schule an, geht zum Vorstellungsgespräch – und bekommt den Ausbildungsplatz. Sie ist bereits 18, darf allein entscheiden. Die Eltern mit ihren Bedenken sind enttäuscht, dass ihre Tochter hinter ihrem Rücken sich zur Ausbildung zur Erzieherin angemeldet hat. Silja Korn ärgert sich, dass ihre Eltern ihr nur wegen ihrer Blindheit weniger zutrauen und die Zukunft ihrer Tochter in sehr engen Grenzen sich nur vorstellen können. Doch Silja Korns Eltern merken auch, wie ernst es ihr mit der Ausbildung ist. Sie fangen an, hinter ihr zu stehen. Der Vater zahlt das Schulgeld für die Ausbildungsstätte.
Silja Korn ist die erste blinde Teilnehmerin der Ausbildung. Den Lehrenden fehlt Wissen, teilweise auch der Wille, ihr den Unterrichtsinhalt zugänglich zu machen. So vergessen manche Lehrende ihr zu sagen, was sie an die Tafel schreiben und nehmen damit Silja die Möglichkeit, ihrem Unterricht zu folgen. Eine Lehrerin organisiert, dass Mitschülerinnen für ein kleines Honorar in den Fächern Mitschriften in Braille schreiben oder auf Kassette einsprechen. Freizeit bleibt ihr nicht. Klausuren verfasst sie zunächst in Brailleschrift und schreibt sie dann mit mechanischer Schreibmaschine in Schwarzschrift um. Hart arbeitet Silja Korn dafür, die Ausbildung trotz fehlender Barrierefreiheit zu schaffen, setzt fast ihre ganze Freizeit dafür ein. Angeleitet durch die Lehrerin bestimmen die Lernenden mit, was und wie sie lernen und wie sie sich einbringen können. Das stärkt Silja Korn, ihr Leben weiter mehr in ihre eigenen Hände zu nehmen.
In der Ausbildungsklasse ist sie eine der ältesten Schülerinnen, die meisten sind zwei Jahre jünger als sie und interessieren sich für Mode, aber nicht dafür, sich mit Behinderung auseinanderzusetzen. Die Lehrerin initiierte Klassengespräche, in denen sie förderte, dass Silja Korn sich behauptete in der Klasse und die Mitschüler*innen lernten, mit Behinderung umzugehen. In der Blindenschule, sagt Silja Korn, wären sie sehr unselbstständig erzogen und nicht auf das Leben vorbereitet worden, eigene Wünsche sollten zurückgehalten werden. So lernt sie erst in der Ausbildung allmählich, eigene Wünsche zu äußern. Genervt ist sie, immer wieder sagen zu müssen, dass sie das Tafelbild nicht sehen kann, sie jemanden braucht, der sie unterstützt. In ihr nagen Zweifel, ob es richtig war, die Ausbildung zu beginnen. Die Lehrerin organisierte, dass zwei Mitschülerinnen gegen Entgelt Assistenz leisten. Doch diese sind jung, vergessen manchmal über anderem, Silja die Texte zu geben. Die assistierenden Mitschülerinnen immer wieder anzusprechen, um ihre Aufgaben bearbeiten zu können und keinen Ärger zu bekommen, kostet Silja Korn Überwindung. Ebenso, dass sie Grenzen setzen muss, wenn eine assistierende Mitschülerin nur des Helfens willen hilft und ihr dabei Dinge abnimmt, die sie kann, sie bevormundet. Doch die Klasse erwartet, dass Silja ihre Wünsche anspricht, nicht wartet, bis sie fragen. Es ist ein schrittweises Verstehen und Zueinanderkommen, verbunden mit Frust und Ängsten.
Nach dem Jahrespraktikum spricht eine Lehrerin an, dass es möglicherweise später Probleme geben könnte, die Anerkennung zu erhalten. Die Prüfungen besteht sie. Doch entsetzt stellt sie fest, dass ihr die staatliche Anerkennung als Erzieherin verweigert wird, weil sie blind ist und so ihrer Aufsichtspflicht nicht nachkommen könne. Ohne diese könnte sie nicht arbeiten. Silja Korn zieht dies herunter. Sie fragt sich, ob es dumm von ihr war, diesen Beruf zu erlernen und doch alle Recht hatten, das gehe nicht gut. Monatelang kämpft sie gegenüber Behörden, bis sie sie die staatliche Anerkennung als Erzieherin erhält. Sie bewirbt sich in ganz Deutschland, auch an der Blindenschule – niemand kann sich damals vorstellen, eine blinde Erzieherin einzustellen. Doch in einer Kindertagesstätte in Berlin-Schöneberg arbeitet eine Leiterin, deren verstorbener Vater selbst blind war. Sie will Silja Korn einstellen. So setzen sich das Bezirksamt von Schöneberg, die Klassenlehrerin von Silja Korn und der Berliner Blindenverband dafür ein, dass Blindheit kein Hinderungsgrund für eine staatliche Anerkennung als Erzieherin sein sollte. Vier Monate dauert das Hin und Her. Dann, 1989, kann Silja Korn in der Kindertagesstätte tätig werden.
Als erste blinde Erzieherin und später noch fortgebildet zur ersten blinden Spracherzieherin Deutschlands arbeitet sie. Sie ließ sich nicht aufhalten. Doch zeitweise, da zerren die ständigen Kämpfe, um als Erzieherin arbeiten zu können, an ihr. Eine Kindertagesstätte, in welcher sie Arbeit gefunden hat, schließt nach neun Jahren. In einer anderen Kindertagesstätte, in welcher sie anschließend arbeitet, wird sie gemobbt. Bei ihrer Stellensuche stößt sie auf Ablehnung. Manchmal zweifelt sie selbst so sehr, dass sie kurz davor ist, aufzugeben. Doch sie macht weiter. Silja Korn arbeitet seit nun bereits 33 Jahren als Erzieherin und Spracherzieherin. Ihr großer Traum, mit blinden Kindern zu arbeiten, hat sich nicht erfüllt. „Aber wenn ich mit sehenden Kindern arbeite, kann ich Vermittlerin sein zwischen Sehenden und Blinden, weil die Kinder ganz selbstverständlich damit aufwachsen, dass es blinde Menschen gibt und das ist so wichtig“, stellt sie fest.
Sich nicht einfach abzufinden mit einem Nein, hat sie gelernt. Um als blinde Frau selbst über ihr Leben bestimmen zu können, war sie gezwungen, es mehr lernen zu müssen als andere, denen nicht Berufe wie Telefonistin oder Bürstenmacher als einzig mögliche Bestimmung angedacht wurden, nur, weil sie nicht blind waren.
So, wie Silja Korn Barrieren, die andere ihr wegen ihrer Blindheit zu setzen versuchen, in Frage stellt, lässt sie auch Alter oder Geschlecht nicht gelten, wenn diese sie hindern dabei zu sein.
Als der Blindenverband Männer für eine neue Blindenfußballmannschaft sucht, schreibt sie, das grenze sie als Frau aus, sie aber wolle mittrainieren. Als keine Reaktion kommt, schreibt sie noch einmal. Später erfährt sie, auch andere Frauen hätten sich gemeldet. Gegründet wurde eine gemischte Mannschaft. Dabei hat Fußball sie nie interessiert. Doch nicht teilnehmen zu dürfen, nur, weil sie eine Frau ist, das hat sie geärgert. Für eine reine Frauenmannschaft sind es zu wenig Interessierte. In der gemischten Mannschaft zu spielen, macht ihr Freude. Sie merkt aber auch, dass die Männer sich manchmal stürmischer verhalten als ihr lieb ist. Nach einigen Jahren hört sie auf, als sie beim Zusammenstoß mit einem Mann einen ausgekugelten Finger davonträgt.
Als ein Aufruf an Jugendliche für ein Theaterprojekt zum Thema Ausgrenzung erscheint, findet Silja Korn, dann dürfe niemand sie auf Grund ihres nicht mehr jugendlichen Alters ausschließen. Sie will Theater spielen, äußert dies, die Projektleitenden überlegen und suchen mit ihr nach einem Weg. So entsteht eine Generationen übergreifende Theatergruppe. Silja Korn, die regelmäßig zu den Proben erscheint, während Jugendliche öfter fehlen, trägt zur Stabilität der Gruppe bei.
Als Silja Korn mit ihrem Mann Guido einen Sohn bekommt, stößt sie auf Vorurteile. Wieder werden Zweifel geäußert, wie sie als blinde Frau ein Kind gut versorgen könne. Um sich auszutauschen mit anderen behinderten Frauen und sich zu stärken, übernimmt sie damals im Netzwerk behinderter Frauen die Leitung einer Müttergruppe. Zweieinhalb Jahre leitete sie die Gruppe. Heute ist ihr Sohn erwachsen. Doch seit 2017 fördert sie mit ihrer Silja-Korn-Stiftung blinde und taubblinde Kinder. In Kindertagesstätten und Schulen spricht sie über ihr Leben mit Blindheit und lässt Teilnehmende zumindest kurzzeitig den Raum mit Augenmaske und Blindenlangstock erfahren. Ihr Ziel ist es, deutlich zu machen, wie ihr Leben mit Blindheit ist und sich dafür einzusetzen, dass blinden Menschen alle Türen offenstehen für ihr Leben. Auch beim Allgemeinen Blinden- und Sehbehindertenverband Berlin engagiert sie sich deshalb als Botschafterin der City-Stiftung Berlin für das Projekt „Augenlicht“. Außerdem berät sie Mitarbeitende, welche Filmbeschreibungen, die Audiodeskriptionen, erstellen. Sie gibt Rückmeldung, wie es verständlicher werden kann und welche treffenderen Wörter verwendet werden können, wenn das Geschehen im Film für blinde Menschen beschrieben wird.
Mit ihrer Kreativität definiert Silja Korn ihre Grenzen immer wieder neu: Sie malt. Sie fotografiert, lässt auch mit Lightpainting durch extra lange Belichtung besondere Effekte auf Fotos entstehen. Sie tanzt, spielt Improvisationstheater und singt im Chor. Sie schreibt.
Kreativität, besonders das Malen, braucht sie zum Leben, um entspannen und sich ausdrücken zu können. Als sie herausfindet, dass es möglich ist, Farben plastisch und damit tastbar auf Leinwand aufzutragen, „da brachen Farben aus mir heraus, es befreite mich, endlich wieder malen und mich ausdrücken zu können“, sagt Silja Korn.
Sie fotografiert allein oder mit sehender Assistenz, die sie hinweist auf Motive und wie sie ihre Kamera ausrichten kann, um diese so abzubilden, wie sie es möchte. Oft übernimmt ihr Mann Guido diese Rolle.
Seit sie 22 ist, sind Silja und Guido Korn ein Paar. Im U-Bahnhof Mehringdamm spricht er sie damals an. Er kam von der Arbeit, Silja von einer Party. Guido Korn fragte sie, ob sie blind sei. Silja Korn hebt ihren Blindenstock an und meint, das sähe man doch. Ob sie von Schwedenkräutern gehört habe, seine Mutter nehme sie bei Zahnschmerzen und wenn sie die Schwedenkräuter auf Wattebäuschen auf ihre Augen legen würde, vielleicht könne sie dann wieder sehen, fragt er sie. Silja Korn verschwendet keinen Gedanken an diese seltsame Idee und weiß nicht, ob er selbst daran glaubte damals oder nur Kontakt suchte. Guido Korn nennt ihr seine Telefonnummer, die sie sich merkt und drei Wochen später anruft. Überrascht ist sie, als er sich sofort an sie erinnern kann. Drei Monate lang teiefonieren sie immer wieder. Ein Treffen zögert sie hinaus, weil sie schlechte Erfahrungen mit Männern gemacht hat. Dann trifft sie sich doch mit ihm. Nach und nach vertraut sie ihm und sich selbst im Kontakt mit ihm immer mehr.
Seine Eltern lehnen Silja Korn ab. Sie passte nicht zu der Vorstellung seiner Mutter, die davon träumte, dass seine Frau mit ihr einmal in Spanien ein Restaurant führen solle und fürchtete stattdessen, dass ihr Sohn sich um seine Frau nur kümmern müsse. Oma wollte sie nicht werden, hatte Sorge, dass ihr Enkel auch blind sein könne und dass ihre Schwiegertochter sich nicht um ein Kind kümmern könne, weil sie blind sei. Das traf Silja, sie wurde unsicher, was sie sich zutrauen könnte. Sie tauschte sich mit blinden Eltern aus und gewann so Sicherheit, sich zuzutrauen, ein Kind großzuziehen.
Nach und nach verstanden auch ihre Schwiegereltern, dass Silja Korn selbstständig leben und ein Kind großziehen kann.
Begleitet ihr Mann sie zu Ausstellungen oder Veranstaltungen, spürt man, er ist ein Fan ihrer Kunst und liebt, wie Silja Korn, die so schüchtern war, ihr Leben in die Hand genommen hat und Barrieren nicht einfach hinnimmt.
„Sie stellt so viel auf die Beine“, sagt ihr Mann Guido Korn.
Als Kind malt Silja Korn feine Damen des mittelalterlichen Hofes mit Hochsteckfrisur oder Hut. Königin Luise hat es ihr besonders angetan, die Power-Frau, die sich durchsetzte und trotzdem volksnah blieb, wie Silja Korn sagt. Vor reichlich 200 Jahren residierte Luise im Schloss Charlottenburg. Heute wohnt Silja Korn nur knapp einen halben Kilometer davon entfernt und manchmal, da trägt auch sie einen Hut, einen roten mit breiter Krempe, passend zur feinen Bluse im gleichen Farbton. Damit ist sie auch auf der Karte abgebildet, mit der sie mit polyrama zum Audiowalk einlud. Am Ende des Audiowalks, da tanzt sie, ganz ohne Ballsaal, sondern in der Hasenheide zu einem Lied aus ihrer Jugend, wippend, sich drehend, manchmal auch etwas zaghaft. Und lächelnd.
Es gibt auch Erfahrungen, die sie enttäuschen, verletzen. Bei der „Schöneshow“, einer Outdoor-Ausstellung im community garden in Berlin-Schöneberg, weist niemand sie darauf hin, dass der große Tisch vor ihren Bildern oft belegt sein würde. Die Vernissage verlässt sie, nachdem an eben diesem Tisch Geburtstag gefeiert wird, dadurch niemand zu ihren Bildern kommen kann und auch niemand sie mit den anderen Ausstellenden, die sie nicht sehen kann, bekannt macht. Sie bespricht es später mit der Kuratorin, hofft, dass es beim nächsten Mal besser umgesetzt wird. Es tut ihr weh, dass niemand dort beachtet, was sie braucht.
Zum Schönegarten fahren Silja und Guido Korn noch einmal nach dem Audiowalk am Hermannplatz. Vor einigen Tagen endete die Ausstellung zwischen den Beeten. Bevor ihr Mann ihre Bilder abnimmt, steigt Silja Korn auf die Bank und steht inmitten ihrer Fotos mit erhobenem Kopf. Da ist sie wieder, die Frau, die schon weitere Ausstellungen plant, immer neugierig auf das Leben. „Glaube nicht an das, was andere dir sagen, glaube an dich selbst“, sagt sie.
Mehr Informationen: http://siljakorn.de/
Was für ein berührender Bericht von dieser so mutigen kreativen und unerschrockenen Persönlichkeit.
Danke für das sehr interessante Porträt.
Möge diese Frau ein Vorbild für viele sein, um ihre Zukunft selbstbestimmt zu gestalten.